EIN KRÄUTERGARTEN FÜR ALLE SINNE

Als Franziskanerinnen fühlen wir uns in Oberzell besonders mit der Natur verbunden. Im Kräutergarten – der Teil unseres Klostergartens ist – wachsen vielerlei Kräuter, die Heilkräfte besitzen und die wir gerne nutzen. Die gesamte Schöpfung, deren Teil wir sind, betrachten wir als Geschenk Gottes. Der heilige Franz von Assisi sah in allen Geschöpfen seine Brüder und Schwestern. Dieser achtsame Umgang mit allem Geschaffenen prägt auch unser Handeln.


Hauptverantwortlich für den Oberzeller Kräutergarten ist Apothekerin Katharina Mantel. Bereits seit Beginn (1999) ist sie mit der Forschergruppe Klostermedizin verbunden und Dozentin in den Fortbildungsseminaren. Als sie den Klostergarten übernahm, trat sie das Erbe von Schwester Leandra Ulsamer an, die dort jahrzehntelang wirkte. Nach 16 Jahren als ehrenamtliche Mitarbeiterin und rechte Hand der Ordensfrau bekam die studierte Pharmazeutin schließlich die Leitung.

Klostermedizin vom 8. bis 13. Jahrhundert: Die Rolle der Kräutergärten

Die Geschichte der Klostergärten reicht lange zurück. Im sogenannten St. Galler Klosterplan wurde 820 erstmals ein Heilkräutergarten eingezeichnet, der neben Kreuz-, Gemüse- und Obstbaumgarten einen Muster-Klostergarten darstellte. Im Mittelalter war ein Kloster ohne Garten undenkbar. Der Abt des Klosters Reichenau, Walahfrid Strabo beschrieb um 840 in seinem Gedicht einen mittelalterlichen „hortulus“ mit 24 Heilpflanzen. Der Kräutergarten lieferte nicht nur Pflanzen für die Klosterapotheke und die Küche, sondern war auch ein Ort körperlicher Arbeit und gleichzeitig ein Ort der Übung monastischer Tugenden wie Demut und Aufrichtigkeit und der Meditation. Er verkörpert also die Grundprinzipien des klösterlichen Lebens: ora et labora (bete und arbeite). Über viele Jahrhunderte waren die Heilkräuter aus den Klostergärten die einzige Hoffnung für Kranke. Der Gründer des Benediktinerordens Benedikt von Nursia begann die Bevölkerung medizinisch zu betreuen und ließ damit das alte Heilwissen der Griechen (z.B. von Hippokrates) wiederaufleben. „Die Sorge für die Kranken steht vor und über allen Pflichten; man soll ihnen so dienen, als wären sie wirklich Christus“, schrieb der Mönch aus Italien. Klostermedizin war der Vorläufer der Schulmedizin. Der Anbau von Heilpflanzen und die Herstellung von Arzneimitteln blieb bis weit in die Neuzeit hinein eine wichtige Tätigkeit in den Klöstern. Auch die bekannte Äbtissin des Benediktinerinnenklosters Hildegard von Bingen (1098-1179) schrieb ihre Erfahrungen mit Heilkräutern nieder. Nach ihr verloren die Klöster langsam ihr Monopol in der Heilkunde und Universitäten übernahmen diese Aufgabe.

Sr. Leandras Kräutergarten

Ein sehr schönes Beispiel für die neue Kräutergartenkultur im 20. Jahrhundert ist der Kräutergarten, den Sr. Leandra Ulsamer in den 1990er Jahren mit großer Leidenschaft aufgebaut hat. Sr. Leandra hatte sich als Erzieherin viele Jahre um verhaltensauffällige Mädchen gekümmert und suchte einen Ausgleich. So erhielt sie neben dem Gemüsegarten eine kleine Fläche, mit dem Auftrag Kräuter für sich und ihre Mitschwestern anzupflanzen. Die Ordensschwester pflanzte 1989 einen ersten Salbeistock sowie Minze, Johanniskraut und Melisse. Zu diesen Heilpflanzen mit beruhigender Wirkung kamen im Laufe der Zeit weitere hinzu, die die Schwester häufig geschenkt bekam. Der Garten wuchs ständig weiter. Und Sr. Leandra ging in ihrer Aufgabe auf:

„Ich erlebe mich dabei als Gehilfin des Schöpfers, der Kräfte in die Kräuter gelegt hat, die ich in Tees oder Speisen an meine Mitschwestern weiterschenken kann.“

 

Kräutergarten für alle Sinne

Sr. Leandras Garten ist in vielerlei Hinsicht einzigartig: Er ist nicht nach bestimmten Pflanzenarten in rechteckigen Beeten gegliedert wie in mittelalterlichen Klostergärten, sondern die einzelnen Pflanzenarten sind über den gesamten Garten verteilt. Geschwungene Wege, die mit Schieferplatten belegt sind, ziehen sich durch die Anlage – ohne eine gerade Linie. Dadurch entsteht ein lebendiges, organisches Gesamtbild. Die Pflanzen sind nach ästhetischem Gefühl über den Garten verstreut, so dass von Frühling bis zum Spätherbst in jeder Ecke etwas blüht. So können Besucher immer wieder Neues entdecken.

Aufgelockert werden die Heilkräuter durch Zierblumen. Nicht nur durch die Rose, die ja selbst wiederum eine Heilpflanze ist, sondern auch durch Sonnenblumen oder Nelken. Daneben setzen große Steine und Baumstümpfe Akzente. Die Salbeisträucher haben sich fast zu kleinen Bäumen entwickelt und die Kapuzinerkresse überwuchert die Klostermauer. Kleine beschriftete Schiefertafeln weisen auf Pflanzen und ihre Wirkung hin oder zitieren Verse z.B. aus dem Sonnengesang des Hl. Franziskus. Die spirituellen Texte auf den Schiefertafeln und Steinen geben Impulse. Der Garten lädt zum Schauen, Riechen, Schmecken und zum Entspannen ein. Ein Fest für die Sinne und für achtsame Momente! Für Sr. Leandra war die Arbeit im Garten heilsam. Sie sagte mal: „Im Garten kann man mit Gott reden und er ist für mich wie ein Stückchen Himmel auf Erden“. Die Kraft, Schönheit und Ausstrahlung des Kräutergartens wirkt auf Körper, Geist und Seele.

Kooperation mit der Forschergruppe Klostermedizin

Für das Heilwissen der Klöster interessiert sich auch die moderne Wissenschaft. Die Forschergruppe Klostermedizin, eine interdisziplinäre Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universität Würzburg, arbeitete ab 1999 mit Sr. Leandra zusammen. Seminare fanden im Kloster statt. Der Austausch mit der Forschergruppe Klostermedizin war für die Ordensschwester sehr befruchtend und zahlreiche Fernsehbeiträge wurden im Klostergarten gedreht. Noch heute ist die Forschergruppe Klostermedizin mit dem Garten verbunden.

Unter neuer Leitung: Einer der größten und bekanntesten Kloster-Kräutergärten in Deutschland

2019 übergab Sr. Leandra die Pflege des Kräutergartens aus Altersgründen an die Apothekerin Katharina Mantel, die ebenfalls Mitglied der Forschergruppe ist. Sie führt den Garten im Sinne von Sr. Leandra fort. Nach wie vor werden die Pflanzen liebevoll gepflegt. So kommen Basilikum, Liebstöckel, Dill und Borretsch in den klösterlichen Salat. Schlüsselblumen und Zitronenmelisse werden immer noch im Frühjahr für die Kräutertees geerntet, im August Ringelblumen und Johanniskraut für Öle und Salben. Zu Mariä Himmelfahrt werden wunderschöne Sträuße, sogenannte Würzbüschel, mit Königskerzen, Rainfarn, Goldrute, Minze und vielem mehr gebunden und im Gottesdienst gesegnet und verteilt.

Was 1989 mit einer kleinen Ecke im Garten begann, ist heute mit rund 100 verschiedenen Heilkräutern und ca. 200 Quadratmetern Fläche einer der größten und bekanntesten Klosterkräutergärten in Deutschland. Und jedes Jahr kommen neue Pflanzen hinzu. Katharina Mantel und ihre vielen Helferinnen und Helfer reagieren auch auf den Klimawandel und experimentieren mit Standorten, Beschattungen und Sorten.

Apothekerin Katharina Mantel bietet regelmäßig Führungen durch den Kräutergarten an. Unter ihrer Aufsicht entstehen wohltuende Tees, die beliebte Ringelblumensalbe, Johanniskrautöl oder Lavendelöl. Sr. Reingard Memmel und viele Ehrenamtliche ernten und verarbeiten sorgfältig die frisch geernteten Kräuter. Die Produkte sind auch an der Klosterpforte erhältlich.

Berichte, Radio- und TV-Beiträge über den Oberzeller Kräutergarten: