Zusammen mit Schwester Beatrix bin ich vor kurzem auf dem Jakobsweg in Spanien gepilgert. Wir sind unserem Ziel, die Strecke von Oberzell nach Santiago de Compostela zu Fuß zu gehen, wieder 200 Kilometer näher gekommen. An unserem letzten Pilgertag überschritten wir den Alto de Monjón, einen Pass auf 1500 Meter Höhe. Am höchsten Punkt ist ein schlichtes Eisenkreuz auf einem fünf Meter hohen Baumstamm aufgerichtet. Das „Cruz de Ferro“, wie es auf Spanisch genannt wird, zählt zu den wichtigsten Etappen auf dem Camino Francés. Seit Jahrhunderten legen vorbei kommende Pilger:innen am Fuß des Kreuzes Steine ab.
Inzwischen ist der Steinhaufen auf mehrere Meter angewachsen. Die Pilger:innen bringen Steine von zuhause mit oder sammeln sie unterwegs auf und tragen sie eine Weile mit sich im Gepäck. Viele legen auch andere persönliche Dinge ab oder befestigen Symbole an dem hölzernen Baumstamm: Fotos und Erinnerungsgegenstände an Verstorbene, Rosenkränze und Armbänder, Muscheln und Murmeln, Karten und Briefe. Am Fuß des Kreuzes herrscht eine ganz eigene Atmosphäre: Die meisten nähern sich in Stille und Ehrfurcht, sprechen ein Gebet oder berühren das Kreuzesholz. Andere halten den besonderen Moment mit einem Selfie fest oder teilen ihn mit einem anderen Menschen, indem sie lautstark telefonieren.
Nöte und Sorgen an das Kreuz heften
Das Cruz de Ferro, das Gipfelkreuz auf dem Pass am Jakobsweg ist – wie viele andere Wegkreuze auch – ein Votivkreuz geworden. Ein Ort der Gottsuche und der Verehrung. Ein Ort des Dankes und der Bitte. Ein Ort der Verneigung vor dem größeren Gott und dem unsichtbaren Geheimnis, das unser Leben umfängt und das wir zu ergründen suchen. Und es ist ein Ort der doppelten Spiegelung: Beim Betrachten des Kreuzes können wir wie in einem Spiegel unser eigenes Leid sehen. In den Wunden des Gekreuzigten sind auch unsere Nöte und Sorgen gut aufgehoben. Wir dürfen sie an das Kreuz heften, an das sich Jesus hat annageln lassen.
Das Kreuz wird dann zum Anschlagbrett für all unsere menschlichen Schicksalsschläge. Für Krankheiten und Enttäuschungen, Verluste, Abschiede und Tode. Das Kreuz ist das sichtbare Symbol für die Zerbrechlichkeit und Verwundbarkeit des menschlichen Lebens. Angeheftet am Kreuz sagt uns der zu Tode gemarterte Leib Jesu: Schaut her! Ich kenne Euer Leid. Auch ich bin ihm nicht ausgewichen. Ich habe mein eigenes Kreuz getragen, Spott, Verachtung und Erniedrigung ausgehalten. Vor meinem Angesicht müsst Ihr nichts beschönigen, übertünchen, verheimlichen oder verbergen. In mir seht Ihr die nackte Wahrheit. Den Ernstfall der Menschwerdung.
Und am Karfreitag gilt auch die umgekehrte Spiegelung: Wir betrachten die Passion Jesu. Wir meditieren seinen Kreuzweg. Wir versetzen uns in seine Todesangst und Gottverlassenheit. Wir halten uns seine Schmerzen und den grausamen Foltertod vor Augen. Und wir erkennen darin das Schicksal von Millionen Menschen, die Ähnliches erleiden. Dem Karfreitag nicht auszuweichen und bewusst in den Spiegel des Kreuzes Jesu zu schauen, soll uns sensibler und einfühlsamer machen. Es kann unser Mitgefühl wecken und unsere Solidarität fördern mit Menschen, die heute in den Sackgassen des Lebens gefangen sind, die nicht mehr aus noch ein wissen, die sich danach sehnen, dass jemand ihr Kreuz mitträgt, Gesten der Menschlichkeit zeigt und auch in den schlimmsten Situationen nicht von ihrer Seite weicht.
Franz von Assisi empfing vor 800 Jahren die Wundmale Jesu
Franz von Assisi hat sich dies zu Herzen genommen. In diesem Jahr werden es 800 Jahre, seit er – zwei Jahre vor seinem Tod – selbst die Wundmale Jesu empfangen hat. Er hat sich radikal anrühren lassen von dem Mensch gewordenen Gott, der sich nackt und arm gemacht hat um unseretwillen. In der Spur dieses Jesus von Nazareth ist Franziskus selbst den Weg der Armut, Demut und Liebe gegangen. Er hat auf die Ausübung von Macht und Gewalt verzichtet. Er lebte ohne eigenen Besitz und achtete jedes Lebewesen als Geschöpf Gottes. Die Streitigkeiten in seiner Brüdergemeinschaft hat er sich genauso zu Herzen genommen wie die Unversöhnlichkeit zwischen den Religionen. In der Zeit der Kreuzzüge suchte Franziskus barfuß und ohne Waffen den Dialog mit den Muslimen. Er setzte auf die Kraft des Gebetes, überzeugende Argumente und das Beispiel eines authentischen Lebens.
Uns aufgeklärten, rationalen Menschen mag so ein Lebensentwurf völlig naiv und verrückt vorkommen. Der amerikanische Philosoph und Theologe John D. Caputo nennt ihn „schwache Theologie“. Seit Jahrhunderten sind wir eine „starke Theologie“ gewohnt: Sie verkündet uns einen allmächtigen und allwissenden Gott. Sie malt Bilder wie hier vorne in unserer Klosterkirche am rechten Seitenaltar: Einen Gott als Weltenherrscher, in der Gestalt eines alten, weißen Mannes mit Bart. Thronend auf einer Wolke, mit Zepter und Weltkugel in der Hand. Ein Gott, der abgehoben ist – fern von uns. Die „starke Theologie“ hat Dogmen definiert, ein für allemal gültige Glaubenssätze. Und sie verbarrikadiert sich dahinter nicht selten wie in einer Festung.
Doch genau damit geht sie am Leben der Menschen vorbei. Denn die Wirklichkeit der Menschen ist vielfach unsicher, fragil, gezeichnet von Zweifeln, Suchen, Ängsten und Trauer. Eine „schwache Theologie“ lässt sich davon anfragen. Sie sieht Gott eher als Ereignis. Als vorübergehende, flüchtige Gewissheit. Einen Moment, an dem wir innehalten, etwas erahnen, ohne es vollständig zu begreifen. Ein Berührtsein, für das wir weder Bilder noch Worte finden. Wo ein Symbol oder ein Gedicht vielleicht mehr ausdrückt als ein ganzer theologischer Traktat.
In einem Pilgerführer für den Jakobsweg wird ein Gebet überliefert, das vorbei Kommende am Cruz de Ferro sprechen: „Herr, möge dieser Stein, Symbol für mein Bemühen auf meiner Pilgerschaft, den ich zu Füßen des Kreuzes des Erlösers niederlege, dereinst, wenn über die Taten meines Lebens gerichtet wird, die Waagschale zugunsten meiner guten Taten senken. Möge es so sein.“
Ich lade Sie ein, nachher bewusst einen Moment vor das Kreuz zu treten. Denn das Kreuz eignet sich auch heute noch als Anschlagbrett oder Spiegel. Als passageres Ereignis. Als Bindeglied zwischen unserem menschlichen Leben und der göttlichen Erlösung, die uns in ihm aufscheint. Legen Sie ab, was Sie mitbringen und nehmen Sie mit, was Ihnen vom Gekreuzigten zugesagt wird: Durch meine Wunden seid Ihr geheilt. (vgl. 1 Petr 2,24 ).
Sr. Katharina Ganz, Generaloberin