„Was sagen Sie zu dem großartigen Konjunkturpaket?“ – „Für mich war nichts drin. Aber den Karton kann ich gut gebrauchen.“ Wortwechsel eines Geschäftsmanns mit einem Obdachlosen im Cartoon der Mainpost.
Die Zeichnung von Harm Bengen und das fiktive Gespräch mit den Sprechblasen bringt etwas Wahres auf den Punkt: Aufrecht steht der Mann mit Anzug und Aktenkoffer auf dem Gehsteig und muss sein breites Grinsen auf offener Straße nicht einmal hinter einem Mundschutz verbergen. Der Obdachlose mit leerer Blechbüchse und zerlöcherter Hose liegt auf dem Boden, hat sich mit dem Oberkörper im aufgestellten Pappkarton verschanzt und bleibt gesichtslos.
Seit den Corona bedingten Ausgangsbeschränkungen Mitte März haben sich viele Stimmen in der Politik Gehör verschafft: Am erfolgreichsten wohl Wirtschaftsverbände und die Fußball-Bundesliga, gefolgt von so genannten systemrelevanten Bereichen bis hin zu Kultureinrichtungen und kommunalen Unternehmen. Gleichzeitig wurde – wieder einmal – deutlich, dass es Menschen gibt, die kaum eine Lobby haben. Dazu zählen all diejenigen, die schon vor Ausbruch der Pandemie in prekären Umständen gelebt haben: Osteuropäische Metzger*innen etwa, die in der Schlachtindustrie zu Dumpingpreisen arbeiten und in menschenunwürdigen Unterkünften hausen, genauso wie Geflüchtete in überfüllten Lagern oder wohnungslose Frauen und Männer, die auf der Straße leben.
Wer anfangs dachte, das Virus mache keinen Unterschied zwischen Reich und Arm, Nord und Süd, sondern treffe alle Menschen gleichermaßen, irrt. Das kann man besonders an New York City studieren. Weiße Multimillionär*innen konnten schnell per Hubschrauber aus ihren Büro- und Wohntürmen an die Ostküste New Jerseys oder Floridas in ihre Luxusvillen fliegen. Übrig blieb die überwiegend schwarze und farbige Bevölkerung, die sich im Billiglohnsektor über Wasser halten muss und auf engsten Wohnverhältnissen kaum vor Ansteckung schützen kann. Kein Wunder, dass die seit Jahrzehnten aufgestaute Wut über soziale Ungerechtigkeit nach der Polizeigewalt am 25. Mai gegen den Afroamerikaner George Floyd im US-Bundesstaat Minnesota nun durch weltweite Proteste und Demonstrationen sichtbar wird.
Neben dem Corona-Virus, das die Atemwege blockiert und die Lungenfunktion lebensgefährlich einschränkt, gibt es andere Phänomene, die Menschen überall auf der Welt die Luft abschneiden: Hunger und Armut, Ausbeutung und Menschenhandel, Rassismus und Behördenwillkür, Polizeigewalt und Diktatur, Kriege und Klimawandel, Migration und Verlust der Artenvielfalt heißen nur einige der Probleme, die nur durch globale Zusammenarbeit gelöst werden können.
Solche Megatrends scheinen sich zu häufen und führen zum permanenten Krisenmodus: Finanzkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Coronakrise… Am Anfang der Ausgangsbeschränkungen gab es kurzfristig Hoffnung, dass der erzwungene Stillstand zu einem gründlichen Nach- und Umdenken führt: Wie wollen wir in Zukunft leben? Welche Art des Wirtschaftens, Reisens und des gesellschaftlichen Zusammenhaltes brauchen wir? Wie gelingt es der Politik, dauerhaft wieder das Steuer in die Hand zu nehmen und mit Hilfe kluger Gesetzgebung und umsichtigem Regierungshandeln das Wohl aller Menschen zu garantieren? Wie müsste eine Weltgemeinschaft aussehen, die sich wirklich am Gemeinwohl orientiert und ein Wirtschaftssystem etabliert, das die endlichen Ressourcen unseres Planeten nachhaltig schützt und zukünftige Generationen im Blick behält? Welche Instrumente braucht es, um dem Leben zerstörenden Raubtierkapitalismus Zügel anzulegen und die Macht einiger Superreicher in ihre Schranken zu weisen?
Auch ich hatte gehofft, dass die Zwangspause eine heilsame Unterbrechung darstellt und unser Credo „schneller, weiter, mehr“ als reine Luftblase entlarvt, die früher oder später endgültig platzen wird. Momentan sieht es nicht danach aus. Stattdessen pumpen Staaten, die es sich leisten können, Geld in die Systeme, damit es möglichst rasch wieder bergauf geht – koste es, was es wolle. Die Folgen müssen genau die Kinder ausbaden, denen man mit 300 Euro Einmalzahlung nun teure Geschenke macht, die sie dann jahrzehntelang zurückbezahlen werden. Einem einzigen Flugunternehmen schnürt der deutsche Staat ein milliardenschweres Rettungspaket, ohne dass die zugesagten Gelder etwa über eine Kerosinsteuer wieder reingewirtschaftet würden. Dabei nähern wir uns rasant dem kritischen Punkt, an dem sich die Erderwärmung nicht mehr stoppen lässt und unser System unaufhaltsam kippt.
Womit hat dieses unlogische und kurzsichtige Verhalten zu tun? Kaum hatten wir die „Held*innen des Alltags“ von unseren Balkonen und Fenstern aus beklatscht: die Müllarbeiter*innen und Altenpfleger*innen, die Ärzt*innen und Kassierer*innen, schon wird gefordert, dass die Anhebung des Mindestlohns ausgesetzt wird, damit die Wirtschaft wieder auf die Beine kommt. In nur fünf Wochen hatte das Auswärtige Amt 240.000 deutsche Urlauber*innen aus ihren Ferienparadiesen zurückgeholt. Gleichzeitig nahm Deutschland gerade einmal 47 Kinder aus den griechischen Flüchtlingslagern auf. Dabei sind allein im Camp Moria auf der Insel Lesbos 20.000 Menschen eng zusammengepfercht, obwohl das Lager nur für rund 3.000 Geflüchtete ausgerichtet ist. Und auch in deutschen Ankerzentren und Gemeinschaftsunterkünften geht es Geflüchteten ähnlich wie Schlachthofmitarbeiter*innen: Die Menschen leben auf engstem Raum. Dementsprechend hoch sind die Infektionszahlen. Der zynische Unterschied zwischen Menschen, die humanitäre Hilfe suchen und denen, die in der Lebensmittelindustrie oder Landwirtschaft schuften, ist: Die Einen gelten als systemrelevant, die Anderen werden als Sozialschmarotzer*innen oder Asyltourist*innen abgestempelt, obwohl sie oft vor Situationen fliehen, die wir mit verursacht haben.
Populistische Verschwörungstheorien, mit denen wir uns vor der eigenen Verantwortung stehlen und die Schuld numinosen Mächten in die Schuhe schieben, helfen hier nicht weiter. „Nehmt das Knie aus unserem Nacken!“ – Den weltweiten Protest der Unterdrückten ernst zu nehmen, zu hören, was Menschen den Atem nimmt und ihnen das Leben raubt, würde bedeuten, das menschliche Zusammenleben und Wirtschaften global neu zu denken. Das geht nicht von heute auf morgen. Aber es geht viel, wenn man will und einsieht, dass es nicht (mehr) anders geht. Das haben wir in den letzten Wochen erfahren.
Schwester Katharina Ganz
Generaloberin