Schon die ersten Schritte auf dem Gelände des Antonia-Werr-Zentrums lassen viele Erinnerungen lebendig werden – vor allem bei den Oberzeller Schwestern, die hier selbst einmal lebten und wirkten. Einmal im Jahr unternimmt das Antoniushaus in Würzburg, das Pflegeheim der Oberzeller Franziskanerinnen, einen Ausflug. Nachdem es 2023 in den Schweinfurter Wildpark ging, wurde in diesem Jahr das Antonia-Werr-Zentrum in St. Ludwig als Reiseziel ausgewählt.
Die Planung war umfangreich: Begleitpersonen suchen und Listen erstellen – wer braucht einen Rollstuhl, wer einen Rollator? Wer bleibt im Rollstuhl, wer kann im Bus umgesetzt werden? Was ist im Falle eines Notfalls? Das Team ist auf alles vorbereitet und schließlich machen sich 25 Bewohnerinnen zwischen 80 und 100 Jahren – manche mit Rollator, viele im Rollstuhl – und rund 30 Begleitpersonen an diesem Dienstagmorgen auf den Weg.
Ihr Transportmittel: ein spezieller Reisebus der Firma Hock aus Steinfeld (Landkreis Main-Spessart). Allein der Einstieg ist für die Seniorinnen ein Erlebnis: mit einem Aufzuglift an der extrabreiten Mitteleinstiegstüre können alle bequem ihre Plätze erreichen. Der Busfahrer bedient die Steuerung, der Rest funktioniert voll automatisch. Die etwa zwei Höhenmeter werden problemlos überwunden. Die Fahrgäste sitzen schließlich alle bequem, Rollstühle und Rollatoren werden im Gepäckfach verstaut.
Für einen guten Start in den Tag sorgt Christine Scheller mit einer kleinen Morgenandacht im Bus und nach rund 45 Minuten erreicht die Gruppe ihr Ziel: das Antonia-Werr-Zentrum (AWZ) in der Nähe von Volkach ist eine heilpädagogisch-therapeutische Einrichtung der Jugendhilfe für Mädchen und junge Frauen (von 11 bis ca. 21 Jahren) in schwierigen, zum Teil aus traumatisierenden Lebenssituationen. Seit über zehn Jahren ist die Einrichtung eine eigenständige GmbH, deren Gesellschafterin die Oberzeller Franziskanerinnen sind.
Hupend fährt der Reisebus auf den Parkplatz des AWZ, wo er von Schwestern und Mitarbeiter:innen bereits erwartet wird. Das Geläut der Kirche von St. Ludwig sorgt für Gänsehaut, einige Reisende sind sichtlich bewegt. Mit einem gemeinsamen Gottesdienst, zelebriert vom Hausgeistlichen des Antoniushauses, Pfarrer Gerold Postler, und gestaltet von den Schwestern in St. Ludwig, startet das Besuchsprogramm. Schwester Regina Grehl berührt dabei mit ihrem Gesang.
Im Theatersaal des AWZ begrüßt anschließend Geschäftsführerin Anja Sauerer ihre Gäste. Schon bei Grillwurst, Pommes und Salat wird viel erzählt und gelacht. Wie gewohnt werden zum Mittagessen die nötigen Tabletten verteilt. An alles ist gedacht, wie die gerontopsychiatrische Fachkraft und stellvertretende Pflegedienstleiterin Simone Bönsch erklärt: „Neben den Medikamenten werden Insuline gebraucht, aber auch Blutzuckermessgerät, Inkontinenzmaterial und Feuchttücher haben wir dabei.“
Auf großer Leinwand schauen sich nach dem Essen alle zusammen den Dokumentarfilm über Schwester Aurelia an. Der prämierte Film, der im Schuljahr 2021/22 von der Filmgruppe Luisenfilm gedreht wurde, begleitet Sr. Aurelia, die seit über 60 Jahren im Antonia-Werr-Zenrum lebt. Die Szenen lassen noch mehr Erinnerungen wach werden und aufleben. Schwestern, die ihre berufliche Zeit in St. Ludwig verbracht haben, schildern begeisternd und freudig Anekdoten und besondere Ereignisse aus dieser Zeit. Während die Frauen in Gespräche vertieft sind und sich über vergangene Zeiten austauschen, füllen Lachen und warme Worte den Raum und schaffen eine Atmosphäre voller Vertrautheit und Freude. Als Anja Sauerer im Anschluss über Auftrag und Arbeit im AWZ berichtet, ist ihr fachlicher Vortrag mit viel Wertschätzung für die Mädchen und jungen Frauen verbunden.
Nun aber wollen die Gäste das wunderschöne Gelände selbst besichtigen: die große Gärtnerei, Schneiderei und Hauswirtschaft, der Speisesaal im historischen Gewölbekeller, die Grotte, Heilquellen und Badebecken. Generaloberin Schwester Katharina Ganz lässt es sich nicht nehmen und schwimmt kurzerhand einige Runden durch das kühle Nass. Einige Schwestern haben ihre helle Freude an den Schaukeln und an der Wippe auf dem Spielplatz. Für den Spaziergang durch das AWZ hat jede Bewohnerin eine Begleitperson an ihrer Seite. Angehörige, Schwestern aus anderen Konventen, Ehrenamtliche und Mitarbeiterinnen des Antoniushauses sorgen dafür, dass die Seniorinnen sicher und entspannt ihren Tag genießen können und, dass es ihnen an nichts fehlt. Mit dem Wunsch auf ein baldiges Wiedersehen verabschieden sich die Gäste am Nachmittag und treten die Heimreise zum Kloster Oberzell an.
Organisation und Umsetzung eines solchen Ausflugs mit dem Pflegeheim sind eine Herausforderung, welche die Leitungskräfte im Antoniushaus gerne auf sich nehmen. Dass es dabei um mehr geht als um einen Tapetenwechsel für die Seniorinnen, erklärt Einrichtungsleiterin Christine Scheller: „Die Bewohnerinnen erleben neue Impulse, was ihre Wahrnehmung fördert.“ Außerdem werde die Erinnerungsarbeit gleich zweifach aktiviert: Zum Einen würden sogenannte Anker gesetzt, die dazu anregen, sich zurückzuerinnern und von Erlebtem zu erzählen. „Zum Anderen werden aus diesem Erlebnis natürlich auch neue Erinnerungen geschaffen.“