Sie war gütig, freundlich, Gott und den Menschen zugewandt, immer mit einem Lächeln im Gesicht und noch auf dem Sterbebett für alles dankbar. Es gibt Menschen, über die man nur Gutes sagen kann. Schwester Lucentia gehört dazu. In den Seligpreisungen Jesu aus der Bergpredigt werden die glückselig genannt, die arm sind im Geist, sanftmütig, demütig, die Frieden stiften, keine Gewalt anwenden und barmherzig sind. So dürfen wir vertrauen, dass Gott Sr. Lucentia Fößel in sein Erbarmen und seinen ewigen Frieden am 4. November 2021 aufgenommen hat.
Geboren am 17. September 1938 und auf den Namen Elisabeth getauft, wuchs sie mit fünf Geschwistern in Staffelbach bei Bamberg auf. Dort hatten die Oberzeller Franziskanerinnen eine Niederlassung. Über die Schwestern kam Elisabeth 1952 als Kandidatin ins Kloster. In Oberzell wurde sie zur Wäscheschneiderin ausgebildet und besuchte die Fortbildungs- und Berufsschule. 1963 legte sie die Prüfung zur Meisterin ab. Bei der Noviziatsaufnahme im Oktober 1957 erhielt sie den Namen Sr. Lucentia. 1959 legte sie die zeitlichen Gelübde ab und drei Jahre später die Profess auf Lebenszeit.
Schon früh zeigte Sr. Lucentia Liebe zu Kindern und Jugendlichen mit Förderbedarf. So qualifizierte sie sich Mitte der 1960er Jahre zur staatlich geprüften Heimerzieherin. Anschließend war sie im Fürsorgeheim Oberzell sowie als Erzieherin im Haus Antonie Werr in Würzburg eingesetzt. Als Wäscheschneiderin zeigte sie besonders Geschick in der Ausbildung der Mädchen und verhalf vielen Mädchen zu einem Berufsabschluss.
Mut für das Wagnis USA
1983 ließ sich Sr. Lucentia 1983 auf das Wagnis ein in die USA auszureisen. Sie lebte und arbeitete in Plainfield (NJ), in New York City. Die längste Zeit wirkte sie erneut in Plainfield als Oberin im Noviziatskonvent Portiunkula. Sterbefälle, Überalterung, fehlende Eintritte sowie viele Austritte zwangen unsere Kongregation, das Regionalhaus Villa Maria in Plainfield, USA, zu verkaufen. Die Schwestern zogen im Mai 2006 nach Yardville (NJ) um.
2012 kehrte Sr. Lucentia nach Deutschland zurück und verbrachte ihren Lebensabend im Antoniushaus. Sie starb im Alter von 83 Jahren.
Im Rückblick auf ihr Leben ist heute unvorstellbar, wie sich Sr. Lucentia ohne Sprachkenntnisse in New York City zurechtgefunden hat, mitten in Manhattan, am Times Square, hinter einer Busstation, die als Drogenumschlagplatz bekannt war und in der Metropole nur „Hell’s Kitchen“, „Teufelsküche“ hieß. Aber sie schaffte sie es jeden Tag, die notwendigen Materialien zu besorgen, um den obdachlosen schwangere Teenagern und alleinerziehenden Müttern zu zeigen, wie man Stricknadeln hält und Maschen macht. Die Mädchen waren immer stolz und glücklich, ihre kleinen selbst gestrickten Babydecken zu zeigen – so krumm und schief sie auch gewesen sein mögen.
Sr. Lucentia verständigte sich nonverbal mit den Mädchen, und die Mädchen brachten ihr im Gegenzug manches bei. Dann wunderten sich die Schwestern manchmal, wenn Sr. Lucentia Ausdrücke verwendete, die man auf den Straßen New Yorks benutzte, die im Kloster aber eher unangebracht waren. Während in den Büros der Mutter-Kind-Abteilung ständig Telefone klingelten und die Betreuerinnen Kontakte zu den Familien oder Beratungsstellen herstellten, sich um Unterkunft, Gesundheitsdienste, finanzielle Unterstützung oder Schulbildung kümmerten, saß Schwester Lucentia nebenan und zeigte den jungen Frauen, wie man eine ordentliche Naht hinbekam. „Sie hat so einen beruhigenden Einfluss auf die Mädchen“, kommentierten die Sozialarbeiterinnen. Und zusehends entspannten sich auch die Mitarbeiterinnen durch die Ruhe, die sie ausstrahlte und ihre stillen Gebete.
Liebe für Arme und Alte
Unsere amerikanischen Schwestern betonen, wie sehr Sr. Lucentia ein spiritueller Mensch gewesen war, die bewusst einen geistlichen Weg ging. Sie machte Mut sich selbst und andere anzunehmen. In der Gemeinschaft galt sie als mütterlich, freundlich, geduldig, aufmerksam und hilfsbereit. Eine besondere Liebe hatte sie für die Armen und für die älteren Menschen.
Gerne verbrachte sie ihre freien Tage in Stirling (NJ). Dort besaß die Gemeinschaft ein Haus, in dem die Schwestern ihren Urlaub verbringen oder sich privat zurückziehen konnten. Sr. Lucentia besuchte dann den Gottesdienst in der nahe gelegenen Pfarrkirche St. Vinzenz von Paul. Freitags übernahm sie Hausbesuche und nahm sich Zeit für Gespräche mit den Kranken und ihren Angehörigen. Sie war in der ganzen Pfarrei beliebt.
Mit ihren kunsthandwerklichen Fähigkeiten und Fotografien fertigte sie Karten her für einen Weihnachtsbasar. Sr. Lucentia liebte die Natur. In den letzten Jahren, die sie im Antoniushaus verbrachte, pflückte sie bei Spaziergängen Wildblumen und brachte sie in einer kleinen Vase in ihr Zimmer. Sr. Lucentia war ein betender Mensch, der Gott über alles liebte. Besonders am Herzen lag ihr das Gebet um Berufungen und für die Verantwortlichen in der Formation.
Wenn man in Assisi die Schwelle zur Kapelle Portiunkula überschreitet, steht da in goldenen Buchstaben: HIC LOCUS SANCTUS EST. Dieser Ort ist heiliger Boden. Mit Sr. Lucentia im Konvent Portiunkula und anderen Orten zusammen zu leben, hieß, den heiligen Boden der Gegenwart Gottes zu betreten, der auch in ihr Mensch, vollkommene Güte und Barmherzigkeit, geworden ist. Auf Sr. Lucentia treffen die Worte von Papst Johannes XXIII zu:
Die Barmherzigen sind leise.
Sie fallen nicht auf.
Sie machen kein Aufhebens von sich.
Sie streben nicht nach oben.
Sie beugen sich nach unten.
Zu dem, der ihrer bedarf.
Sie stellen sich auf die gleiche Stufe,
sie sind neben ihm,
nicht über ihm.
Sie richten ihn auf,
in seine Würde als Mensch,
in den aufrechten Gang,
in das Ebenbild Gottes.
Die Barmherzigen sind still.
Sie machen keine „Karriere nach oben“.
Ihr Leben ist eine „Karriere nach unten“.
In ihnen wurzelt das Reich Gottes.
In ihnen wächst es
und wird groß.
Denn „der Mensch ist nie so groß,
als wenn er kniet.“